Stuttgarter Zeiting. (5.5.2004)
Von Klaus Bachmann
„Wenn mein Patient ausrastet, komme ich ins Fernsehen“
Warum die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für Pädophile dazu geführt hat, die Gefahr für Kinder noch zu vergrößern
Experten: „Die Mehrheit der Pädophilen ist weder gefährlich, noch aggressiv“
Und der belgische Kindervergewaltiger Marc Dutroux ist nie pädophil gewesen
Der Fall Dutroux habe auch in Deutschland dazu geführt, dass die Öffentlichkeit Pädophile mit Vergewaltigern und potentiellen Kindermördern gleichgesetzt habe, sagen Experten. Doch Dutroux ist nie pädophil gewesen. Die Hysterie, die sein Fall ausgelöst hat, hat dazu geführt, dass Pädophile kaum behandelt werden können – wodurch die Gefahr für Kinder eher größer als kleiner wurde.
Brüssel. Es sind meistens die Patienten mit den Erektionsproblemen. Sie sitzen geduldig und unauffällig im Wartezimmer, und wenn die Reihe an sie kommt, erzählen sie erst einmal davon, dass es beim letzten Bordellbesuch wieder nicht geklappt hat. „Wenn man geduldig zuhört und die richtigen Fragen stellt, fassen sie nach einiger Zeit Mut“, berichtet Christoph Ahlers, Diplompsychologe am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Charite.
„Dann kommt es irgendwann heraus: Das Problem sind nicht die Umstände oder das Geschlecht der Sexualpartner, sondern ihr Alter.“
Ungefähr fünf Prozent seiner Patienten sind Pädophile, Menschen, die sich sexuell von Kindern angezogen fühlen.
„Die überwältigende Mehrheit dieser Patienten wird nie auffällig, begeht keinerlei Übergriffe und kommt mit dem Gesetz nie in Konflikt“, versichert Ahlers. „Sie kommen zu uns, gerade weil sie ihre Sexualität nicht ausleben wollen, aber gleichzeitig unter dieser selbstauferlegten Zurückhaltung leiden.“
Bei Ahlers lernen sie dann, ihr Problem unter Kontrolle zu bekommen. Viele solcher Möglichkeiten gibt es in Deutschland nicht. Ahlers:
„Besonders der Fall Dutroux hat enorm dazu beigetragen, dass die Öffentlichkeit Pädophile mit Vergewaltigern, Kindermördern und perversen Monstern assoziiert.
Herkömmliche Psychotherapeuten sind deshalb kaum für die Behandlung solcher Patienten ausgebildet und lehnen sie meist auch deshalb ab, weil sie das Risiko fürchten: ‘Wenn mein Patient ausrastet, bin ich am nächsten Tag im Fernsehen‘, fürchten viele. ”
Doch die Assoziierung von Marc Dutroux, dem Mann, der zur Zeit in Belgien angeklagt ist, sechs Mädchen entführt, vergewaltigt und ermordet zu haben, mit Pädophilie ist ein gedanklicher Kurzschluss. Denn Marc Dutroux war nie pädophil.
Basierend auf mehreren psychologischen und psychiatrischen Gutachten kamen die Ankläger im Prozess gegen Dutroux schon vor Jahren zu dem Schluß, dass der bärtige Wallone seine Sexualität keineswegs auf Minderjährige fixierte. Er war mehrfach verheiratet, betrieb mit seinen Ehefrauen gewöhnliche Sexualpraktiken und entschloß sich vor allem deshalb, Kinder zu entführen, weil das schneller ging, als junge Mädchen zu verführen und weil sie leichter zu manipulieren waren als Erwachsene. Nur vier seiner Opfer waren Kinder, alle anderen waren Mädchen an der Grenze zum Erwachsenenalter oder Erwachsene. Wäre Dutroux pädophil, könnte ihm das vor Gericht sogar als mildernder Umstand angerechnet werden – doch darauf hat sich der Mann nie berufen. „Mit sowas habe ich nichts zu tun”, beharrte er schon zu Anfang des Prozesses.
„Das Problem liegt darin, dass die Öffentlichkeit stillschweigend davon ausgeht, dass pädophile Neigungen auch zu entsprechenden Taten führen müssen und diese Taten dann für die betroffenen Kinder nachteilig sein müssen”, meint Dr. Frans Gieles von der niederländischen Selbsthilfeorganisation JON. In den Niederlanden, wo die Medien dem Fall Dutroux viel mehr Aufmerksamkeit widmeten als in Deutschland, wüßten die meisten Menschen, dass Dutroux nicht pädophil sei. Das Netz von Einrichtungen und Selbsthilfegruppen für Pädophile ist dort auch größer als in Deutschland.
„Uns hat hier mehr geschadet, dass die Leute Pädophile mit Inzest zwischen Vater und Tochter in einen Topf werfen. Pädophilie, das gilt einfach als „Sex mit Kindern”. Und hinzu kommt, dass die meisten Untersuchungen über Pädophilie mit Hilfe von Daten über straffällig gewordene Personen gemacht werden – denn die sind bekannt, während die Pädophilen, die nicht auffällig werden, weil sie ihre Neigung unterdrücken, im Dunkeln bleiben. Aber damit entsteht natürlich ein ganz schiefes Bild.”
Die Hysterie, angefacht durch das enorme Medieninteresse für alles, was mit dem Verschwinden und der Vergewaltigung von Kindern zu tun hat, hat sich, was die Behandlungsmöglichkeiten für Pädophile angeht, als vollkommen kontraproduktiv erwiesen.
„Die Wahrscheinlichkeit, dass Pädophile aggressiv werden und Straftaten begehen, ist nicht größer als bei jeder anderen Bevölkerungsgruppe mit bestimmten sexuellen Vorlieben, ob das Hetero-, Bi-, oder Homosexuelle sind“, gibt Ahlers zu bedenken. „Das Problem entsteht, wenn diese Menschen gezwungen sind, ihre Vorlieben ohne Behandlung zu unterdrücken und sich selbst nicht so akzeptieren, wie sie sind. Verdrängung ist immer ein Risikofaktor.“
Doch Pädophilen bleibe kaum anderes übrig, als zu verdrängen, Behandlungsmöglichkeiten gebe es kaum, die Behandlung selbst werde von den Krankenkassen nicht bezahlt und Selbsthilfegruppen seien schwer zu finden:
„Die verstecken sich in der Anonymität, weil sie durch die Medien schnell als Porno-Tauschbörsen in Misskredit gebracht werden.“
Doch je mehr verdrängt werde, desto größer die Gefahr, dass jemand ausraste.
„So gesehen hat die Pädophilenhysterie im Gefolge der Affäre Dutroux die Gefahr für unsere Kinder eher erhöht, als vermindert.“
Klaus Bachmann